Von Sepp Graessner

Im kurdischen Begriff „Xurpe“, der nur unzureichend mit traumatischer Erfahrung übersetzt wird, ist die Trauer enthalten, die ein Mensch empfindet, wenn er an die Verluste an Leben und Dingen, an Schmerzen und Drangsalierungen erinnert wird oder sich gedenkend erinnert. Dieser Begriff, der eigentlich Herzklopfen, Herzrasen bedeutet, ist auf emotionale Empfindungen der Trauer ausgedehnt worden. „Die Trauer gewährt eine ungeheure Sicherheit, weil sie uns von etwas überzeugt, was wir sonst bezweifeln würden: von unserem Verhaftetsein mit anderen.“[1]  Erst die Fähigkeit zur gemeinsamen Trauer konstituiert eine menschliche Gemeinschaft. Die im Kurdischen ausgesprochene Trauer wird zwar in der einzelnen Person gefühlt, stellt aber zugleich ein Angebot zur sozialen Teilung des Schmerzes dar. Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat sich in Südkurdistan eine Haltung herauskristallisiert, die auf eine öffentliche Trauer verzichten musste. Paul Parin hatte schon 1983 in der „Psyche“ von der Angst der Mächtigen vor öffentlicher Trauer gesprochen. Besonders während der Periode des Saddam-Regimes konnte das in „Xurpe“ enthaltene Angebot nicht ausgelebt werden. Die öffentlich zur Schau getragene und tröstliche Trauer war verboten. Daher besteht die Trauer als unabgeschlossenes Kapitel fort, weil sie nicht in ein kollektives Ritual münden durfte. Trauer führte seither ein untergründiges Eigenleben, das die Geschichte(n) dieser Zeit der Leiden und Angst einfärbte. Die trauernde Person oder das trauernde Kollektiv suchen heute aktiv eine Kontinuität in den Individuen herzustellen, die trotz der immensen Verluste weiterhin Bestand haben solle. Diese Kontinuität ist zum einen erfüllt vom Fortbestehen einer individuellen, wenngleich zumeist beschädigten Persönlichkeit, zum anderen enthält sie eine historische Dimension, weshalb Trauer und Geschichte eine innere Verbindung zeigen, denn in beiden Bereichen geht es um (Wieder-) Herstellung von und Suche nach  Kontinuitäten.

Trauer, wie wir sie in Südkurdistan verstehen können, ist ein bewusster Akt, der sich über einen Verlust oder eine demütigende Behandlung ebenso im Klaren ist wie über die eigene Verletzlichkeit und Sterbensgewissheit. Diese Trauer hat nichts von Weltschmerz oder Melancholie, obwohl sie eine Verbindung zwischen Überlebenden und Toten herstellt. Sie nennt Ursachen und ist damit adressiert, wohl weniger an Therapeuten als vielmehr an eine Weltöffentlichkeit bzw. an die eigene Gruppe. In Xurpe, im bemerkbaren Herzrasen ist eine Wiederholung früher ausgelöster vegetativer Phänomene genauso enthalten wie Zorn und Wut.

Vergangenes Leid kann Spuren hinterlassen und ist bei kollektiven Traumata durch Vergessen gefährdet und zugleich erleichtert. Trauer hinterlässt nur insofern Spuren, als sie sich in kollektiven Ritualen, in Denkmälern, Skulpturen materialisiert, denen man in wachsender Zahl in Südkurdistan begegnet. Als individuelle emotionale Reaktion auf Verluste, Gewalt und Demütigung hat individuelle Trauer mit der kollektiven Form  um Berechtigung und Wahrheit zu kämpfen. Die individuelle Trauer kann nur Spuren hinterlassen, indem die Geschichte der Ursachen in Dokumentationen und Archive einzieht und dabei individuelles Leid als Erzählung konserviert. In jüngster Zeit wurden zudem Filme von Vertreibungen und Verschleppungen zugänglich, die von Saddams Schergen gedreht wurden und dem Diktator den Vollzug seiner Politik meldeten.

Anamnesen von psychosozialen Störungen können die Rolle einer dokumentierten Trauer übernehmen, wenn sie durch eine offizielle Geschichte nicht widerlegt oder geleugnet werden. Trauer existiert nur in Verbindung zu  einem individuellen Gedächtnis, das sich gegen seine Auslöschung wehrt.

Das kollektive Gedächtnis konserviert im Allgemeinen eine prototypische Meistererzählung, in der die abweichenden Besonderheiten einzelner Erinnerungssysteme vernachlässigt werden. Solche Verallgemeinerungen können zu später Kränkung führen. So ist die kollektive (und zumeist) dramatisierte Erinnerungsarbeit geradezu mitbeteiligt an der Auslöschung des Einzelschicksals.  Die diagnostische Anamnese und ihre Bewahrung bilden folglich einen Gegenpol zur prototypischen Geschichte und zu den von ihr ausgelösten Empfindungen. [2]

Es gibt heute gewichtige Stimmen aus allen politischen Lagern, die den Trauerprozess für abgeschlossen erklären möchten, weil die jüngere Generation weder die Empfindungen noch die Inhalte teilen will. Für den Blick der Jüngeren in die Zukunft ist die Trauer der Älteren ein oft ärgerliches Hindernis. Für ein historisches Kontinuum ist es aber unabdingbar, auch für die jüngere Generation, dass die politischen Konsequenzen aus den Jahren der Diktatur sich auf ein Geschichtsbild stützen können, das Trauer mit allen Verpflichtungen und Ansprüchen einbezieht.

Die enge Beziehung von Trauer und Geschichte (als Geschichtsschreibung, Geschichtserzählung), die auf gewalttätige Erlebnisse gründet, scheint im Widerspruch zu liegen zu den humanitären Impulsen, von denen Therapeuten bewegt werden. Therapeuten wie Trauernde beziehen sich auf Vergangenes, auf Verluste. Während Trauernde in der Gegenwart verharren (wollen), suggeriert Therapie eine Orientierung auf Zukunft, die besser, weniger leidvoll, prognostizierbar ausfällt, als würde der Therapeut die Zukunft des Klienten kennen oder bestimmbar machen. Therapeuten werden damit zu Agenten einer Hoffnung, die sich immer auf eine Zukunft richtet, indem sie nach der Vergangenheit schürft. Das Vergangene, das den einen Menschen in seinen Empfindungen und Wahrnehmungen quält, wird durch Therapeuten im Idealfalle in die Richtung einer geschichtlichen Kontinuität aufgenommen und angestoßen. Psychoanalyse ist eine Geschichtsforschung des Individuums, indem sie zu jener Urzeit vorzudringen versucht, in der Bewusstes und Unbewusstes zusammenfielen, allein Erlebnis waren und noch keine Vergangenheit kannten, weil Vergangenheit und Gegenwart eins waren.

Geschichte löst das Geschehen von Verlusten und Bedrohung von den Gefühlen, die es in den betroffenen Individuen bewirkt. Die Vielfalt der Gefühle und die Vielfalt der Heftigkeiten werden einem (oft gewünschten) Standardgefühl weichen müssen, das (wie z. B. die deutsch-französische Erbfeindschaft) eine Ideologie (von z.B. Feindschaft, die zum Selbstverständnis benötigt wird) umgibt. Auch in Kurdistan besteht vereinzelt der Irrglaube, man könne mit einer Geschichte willkürlich definierter Feindschaften die erforderlichen und vielfach stecken gebliebenen Trauerprozesse abkürzen.

Geschichte (eines Volkes oder einer Bevölkerung) hat im Gegensatz zur individuellen Geschichte oder Trauer  die Tendenz zu einer Homogenisierung. Individuelle Gegenwarten werden in einem Homogenisierungsprozess eingeebnet.  Die Geschichte ersetzt die einzelnen Geschichten, nimmt nur einzelne Aspekte aus dem Gewimmel von Empfindungen auf und zielt auf bestimmte Affekte. Die vielfältigen Gegenwarten stützen sich auf eine Sicht der  Vergangenheit, deren reales Erleben doch so unterschiedlich ausfällt. So kommt zu der Trauer um Verluste von geliebten oder geachteten Personen auch noch die Trauer um die Verluste der Einzelschicksale in der Erinnerung eines Kollektivs. Es entstehen Zweifel an der Bedeutung des Einzelnen für eine Gemeinschaft. Kollektive Trauer kann daher auch nur Aspekte der individuellen Trauer auswählen und in Ritualen und Gedenkveranstaltungen beleben und erlebbar machen. So wie  ein unauflöslicher Gegensatz zwischen Geschichten und Geschichte besteht, so verhält sich individuelle Trauer zu kollektiven Formen von Erinnerung und Trauer. Diese Prozesse verlaufen nicht nach derselben Art. Und in gleicher Weise gilt dies hinsichtlich einer Temporalität für die erlebte Zeit und die verallgemeinerte. Auf der anderen Seite darf man annehmen, dass Geschichte und kollektive Trauer auch zugleich ein Kraftfeld darstellen, das ein Individuum beeinflusst, vielleicht stärkt, ohne dass ein Einzelner sich dieses Einflusses bewusst wird. Nur in Bezug auf die Wahrnehmung der Zeit wird es keine Harmonie der Verallgemeinerung geben. Zeitgenossen müssen auf einer unterschiedlichen Sicht der Zeit und ihrer Umstände bestehen. Die Leugnung eines Konflikts der Zeitbetrachtung im Rahmen der Lebenszeit kann nicht zur innergesellschaftlichen Versöhnung führen, wenngleich mit der Konstruktion einer Identität ein Ersatz von jeder Gesellschaft angeboten wird. Identität, zumal kurdische, wird als natürliche Quelle von Selbstbewusstsein konzipiert und somit die unterschiedlichen Vorstellungen von Zeit und Erinnerung an eine konkrete Zeitspanne relativiert. Kurdische Identität, so wird angenommen, ist mit der Geburt gegeben. Sie allein begründet ein geschichtliches Kontinuum aus der erfahrenen Verfolgung und Geringschätzung. Dass Identität nur ein Surrogat ist, belegt die Feststellung, dass etwas, was eigentlich erst im Prozess der Selbstfindung, besser: Selbstmachung,  entsteht, schon vorhanden sein soll.

Wenn also, wie wir annehmen,  kollektive Trauer eine trauernde Person beeinflusst, muss man zugleich einräumen, dass der individuelle Trauerprozess Anteile enthält, die sich dem gesellschaftlichen Zugriff oder einem kollektiven Einfluss  entziehen und damit allein dem Subjekt gehören.  Dem trauernden Individuum wird daran deutlich, dass seine Erinnerung an eine geliebte Person oder Umweltkonstellation von niemand geteilt werden kann. Erst die Erzählung eröffnet die Teilung und mögliche Anteilnahme. Darin ist die Bedeutung von Behandlungseinrichtungen wie dem Kirkuk-Zentrum zusehen. Erzählen wird hier katalysiert, und damit die Chance eröffnet, über das Erzählen eine individuelle Trauerarbeit neben die kollektiven Formen zu stellen und jene sozialen Dimensionen aufscheinen zu lassen, die eine Trauerarbeit einem vorläufigen Abschluss zuführen.

Die in den biographischen, ausgewählten Notizen wiedergegebenen Erlebnisse, die in einem Erzählakt komprimiert werden, verkörpern eine Form der Trauerarbeit, die als nicht abgeschlossen gelten kann. Erzählen beendet nicht die Trauerarbeit. Wenn Trauerarbeit in zahlreichen Einzelpersonen nicht abgeschlossen ist, kann auch die kollektive Beschreibung von Einzelerlebnissen als Geschichte nur eine vorläufige sein, somit ein „work in progress.“ Freilich sind die hinterlassenen Spuren durch dokumentierte Berichte ein wichtiger Teil der Trauerarbeit, weil sich die trauernde Person damit ihrer Trauer bewusst wird. Das Archiv des Kirkuk-Zentrums ist eine Gedächtnisform, welche die individuelle Trauer bewahrt und stellvertretend von der kollektiven Form absetzt.

Die Hilfsimpulse von Therapeuten, die sich auf eine Verbesserung der gesundheitlichen Verhältnisse eines Klienten richten, vermögen die kollektiven Dimensionen von Unterdrückung, Gewalt und kultureller Enteignung deshalb auszublenden, weil sie sich (in westlichen Kulturen) auf eine Maladaptation eines Einzelnen zu nicht näher bezeichnete Normen beziehen. Vielfach aus pragmatischen Gründen ist die kollektive Dimension, die sich in Geschichte ausdrückt, in der individuellen Betrachtung eines körperlich oder seelisch Verletzten nicht systematisch aufzunehmen. Das Besondere des Einzelschicksals will nicht durch Verallgemeinerung oder Homogenisierung relativiert werden. Es wehrt sich dagegen. Das scheint den Ansprüchen der Klienten zu entsprechen. Hier handelt es sich wohl eher um eine abendländische Konstruktion, die nicht in der Lage ist, die Motive für politisches Handeln in Rechnung zu stellen, sondern bevorzugt die Folgen davon fokussiert. Mit einer solchen Auffassung kommt man jedoch in Kurdistan nicht weiter.

In Kurdistan wird, wie übrigens in jeder Gruppe oder Gesellschaft, derjenige belohnt, der sich im Falle eines Konflikts zwischen Eigeninteresse und Gruppeninteresse für das Gruppeninteresse entscheidet[3]. Die Folgen eines altruistischen Verhaltens (politisches oder widerständiges Handeln) sind nicht von den Motiven zu trennen und können durch die Belohnung der Gruppe (in Form von Heldengeschichten, Ehrungen, Gedenkbüchern für Märtyrer usw.) einen Eigennutz auch nicht völlig verbergen. In der Orientierung auf das Gruppeninteresse zeigt sich eine Dimension von Kollektivität, wie sie auch in der Geschichtserzählung aufscheint, die meist statt der ersten Person Singular die erste Person Plural bevorzugt. Indem ein „Ich“ zu einem „Wir“ wird, deutet es die von westlichen Konzepten differente Einarbeitung in ein kollektives Verständnis an. Allerdings kann sich ein kollektives „Wir“ durchaus  als Illusion erweisen.

Indem der Einzelne durch Gewalt und Willkür aus seiner Bahn geworfen wird, erfährt auch die Gruppe oder Gemeinschaft eine Verletzung. Auch die Gesellschaft ist gezwungen, ihre Verletzungen, wenn sie solche wahrnimmt, zu berichten; und sie tut dies durch Geschichte(n). Dabei ist die Geschichte als kollektives Gedächtnis nicht frei von manipulierenden Machtspielen. Viele Geschichten als autobiographische Episoden unterliegen so einem Homogenisierungsdruck, der eine Entstellung der einzelnen Erlebnisse bewirkt. Es entbrennt ein Kampf um die Geschichte, der für eine kollektive Trauerarbeit entmutigend sein kann, zugleich aber auch das Verbindende betont.

 

Offensichtlich besteht bei den Opfern politischer Gewalt ein Bedürfnis, individuell auferlegte Trauerarbeit in den geschützten und gleichwohl halböffentlichen Raum zu tragen und mit anderen Menschen zu teilen. Über den Zeitpunkt der Öffnung, der Veröffentlichung und die Dauer des Trauerprozesses entscheiden die Betroffenen. Es besteht keine Verpflichtung zur Offenbarung persönlicher Erlebnisse von politisch motivierter Gewalt. In Kurdistan waren bis vor kurzem professionelle Adressaten von Trauma-Erzählungen fremd. Es war schlicht undenkbar, dass eine traumatisierte Person einem Fremden gegenüber seine Erlebnisse und begleitenden Empfindungen offenbarte. Ärzten wurde eine auf Organe bezogene Symptomatik ohne Motive, Vorgeschichte und psychosoziale Effekte vorgetragen. Durch die Präsenz des Kirkuk-Zentrum und seine Bereitschaft zum Zuhören, Sammeln und Bearbeiten hat sich eine neue, bereichernde Dimension des Trauerprozesses eröffnet, die einen Abschluss ermöglichen kann. Die Therapeutinnen erfahren in den Erzählungen, dass die Scheidelinie, die sie von den erzählenden Klienten trennt, dieselbe ist, die sie von sich selbst trennt, weil jede Geschichte, die ihnen erzählt wird, hinsichtlich der Gewalt und der Gewaltfolgen am Ende von ihnen erzählt[4]. Damit wird der Trauerprozess zu einer gemeinsamen Veranstaltung, an der beide teilhaben.

Obwohl die für Klienten/Patienten wesentlichen Ereignisse in den meisten Fällen zum wiederholten Male und eher kursorisch im vertrauten Kreis berichtet wurden, erhalten sie sowohl eine Authentizität und auch Unabgeschlossenheit, die auf zweierlei Wirkungen abzielen: Erstens geht es um den (möglicherweise illusionären) Abschluss der grausamen Erlebnisse von Folter und Vertreibung. Zweitens verfolgt die in den biographischen Notizen enthaltene Authentizität das Ziel, persönliche Geschichte zu verallgemeinern und in ein Archiv des Leidens einzufügen. Damit wird der Rahmen einer klinischen Anamnese, die sich auf ein Krankheitsgeschehen und Selbstbeobachtung stützt, verlassen und auf Geschichte orientiert. Selbstverständlich erwarten Klienten eine Erleichterung ihrer Schmerzen und eine Linderung ihrer sonstigen Symptomatik, sie wünschen zugleich aber auch, einen Beitrag zur Zeitgeschichte zu leisten, zu der sie ihre Erlebnisse beisteuern.

Der Inhalt der Trauerarbeit verfolgt daher zwei Interessen und Motive: Zum einen wünscht ein Klient einen anerkennenden Zugang zu verständnisvollen und empathischen Zuhörern für seinen Bericht. Er möchte seine Erlebnisse und deren Folgen anerkannt bekommen und sein latentes Misstrauen, das soziale Kommunikation behindert, hinter sich lassen und durch neue Erfahrungen ersetzen. Durch den Zuhörer wird eine persönliche Geschichte zu einer Tatsache, weil das Ausgesprochene real (und zuweilen manipuliert) ist. Zum anderen entsteht aus der Tatsache der politisch motivierten Verfolgungsgeschichte ein persönliches Bild der Geschichte und der Rahmenbedingungen von persönlich erlebter und mitgestalteter Geschichte.

Der Inhalt der Trauerarbeit besteht deshalb darin, die Erzählung von Verfolgung und Lebensgefahr neuen Erfahrungshorizonten mit anderen Menschen auszusetzen und damit Hoffnung, Zukunft und zugleich Abblassen der quälenden Erinnerungen zu ermöglichen. Erzählen lässt sich als Vorstufe zum Vergessen oder Verdrängen auffassen. Wir können aus den biographischen Notizen entnehmen, dass sehr wahrscheinlich so lange nach Sinn der Erlebnisse gesucht wird, so lange sie im Trauerprozess erzählt werden. Da die allermeisten Erlebnisse von Todesdrohungen und Quälereien keinen (sozial verständlichen) Sinn preisgeben, kann eine traumatisierte Person auch kaum einen Abschluss seiner Trauer um sich und die sozialen Dimensionen seiner Existenz finden. Wenn ein Opfer von Willkür nicht mehr erzählt, bedeutet dies entweder Resignation und damit gesellschaftliches Versagen oder (Teil-)Integration, wenn man einmal vom operettenhaften „glücklichen Vergessen“ absieht.

Therapeuten legitimieren ihren humanitären Impuls damit, dass sie bei der Sinnsuche nach erfolgter Willkür und Lebensbedrohung behilflich sind. Wenn man sich nun als Therapeut bemüht, an Stelle der traumatisierten Personen und mit ihm Sinn in den menschenrechtswidrigen Misshandlungen zu sehen, dann geht man in die zentrale Falle für Therapeuten. Einen Sinn in politisch motivierter und antisozialer Gewalt gegenüber einer konkreten Person zu erkennen, bedeutet, eine nachträgliche Legitimation der Willkür als rational erreichbar anzuerkennen. Wer irrationale oder besser: antisoziale Gewalt und Willkür analytisch einsichtig machen will, stiftet für die Opfer nicht Sinn als rationale Aufklärung sondern gibt den „Schwarzen Peter“  an die Patienten/Klienten zurück: „Wenn du die Verhältnisse weniger naiv und damit besser durchschaut hättest, wäre Deine Trauer abschließbar.“  Dabei ist Willkür dadurch definiert, dass sie jede Normierung von Verhalten und jede zuverlässige Regelung von Kommunikation abweist und neue, unvorhersehbare und unzuverlässige Muster einführt. Willkür steht synonym für Unzuverlässigkeit und Abkehr von Normen, also jene Prinzipien, die durch soziale Erziehung eher verlernt werden sollen. Somit muss Willkür zu einer Werteexplosion führen, auf die sich niemand wappnend vorbereiten kann. In solchen Trümmern Sinn zu finden, mutet widersinnig an.

Im Gegensatz zur Sinnlosigkeit willkürlicher Gewalt lässt sich aber durch die Einbettung der persönlichen Geschichte in die Zeitgeschichte eine rationale Ebene anstreben, die allerdings ein gewisses Abstraktionsvermögen verlangt und sicherlich nicht an den Anfang einer therapeutischen Beziehung gestellt werden sollte. Abstraktion bedeutet wohl immer auch eine Fähigkeit zur Distanzierung. Die Gier nach Erdöl oder anderen Ressourcen als Motiv für Willkür und Krieg ist kaum als Sinn stiftenden Trost für individuelle Leiden zu akzeptieren. Dennoch vermag Geschichte als kollektive Geschichte darin ein Motiv und einen Hintergrund zu erkennen, der rational als Politik oder Machtstreben zu erfassen ist. Auch Antisozialität lässt sich rational beschreiben, vermutlich in der kurdischen Gesellschaft aber nicht emotional verstehen. Abstraktion von einem konkreten Beispiel (d.h. eigener Erfahrung) kann oftmals die lange vermisste Zugehörigkeit zu einer Gruppe, von der man durch das extreme Trauma emotional und sozial getrennt war, wieder herstellen. Individuelle und kollektive Bearbeitungen von Erfahrungs- und Geschichtsbildern bleiben jedoch im Kern antagonistisch.

Wie man es auch dreht, Geschichte und Trauer sind ein komplexes Thema, bei dem individuelle Trauer nur in Teilen von Geschichte zur Bearbeitung aufgegriffen wird, einer Geschichte als Historiographie, die folglich nur einen eingeschränkten Verarbeitungsrahmen für individuelles Leid anbietet. Die Lücke zwischen kollektivem Gedächtnis und individueller Erinnerung kann dadurch Gegenstand therapeutischer Interventionen werden. Hierin sehen wir die Legitimation von therapeutischen Angeboten, die sich freilich freimachen müssen von westlichen Versprechen einer Heilung von individueller Erinnerung. Erinnerung ist weder falsch noch pathologisch. Sie kann nicht „therapiert“ werden. Es ist daher die soziale Dimension von Erinnerung, die zum Inhalt von Trauerbearbeitung gemacht werden muss, indem sie erzählt wird.

In den im kurdischen Fernsehen gezeigten TV- Inszenierungen von Zeitgeschichte der letzten fünfzig Jahre kann man jene Homogenisierungstendenzen erleben, die durch Standarderzählungen bis zu einem gewissen Grad Individuumserlebnisse aufnehmen, allerdings eine Antwort auf die Vielfalt der Einzelschicksale schuldig bleiben. Das Besondere und Einmalige, das in der Individualerzählung steckt und das in der kollektiven Erzählung versteckt wird, muss erst anerkannt, inszeniert und damit reif gemacht werden, um in der Geschichte und kollektiven Erzählung Platz zu finden. Dies kann nur dadurch geschehen, dass die individuellen Erlebnisse einen Teil ihrer Subjektivität aufgeben und durch Vergleiche bzw. Verallgemeinerung eine Verbindung zu anderen Betroffenen von Gewalt und Willkür herstellen. Dies ist unter drei Gesichtspunkten vorstellbar:

Erstens muss jeder Darstellung die soziale Dimension von „individueller“ Gewalterfahrung anerkennend zu Grunde liegen und zweitens muss eine Orientierung auf eine gemeinsame Zukunft akzeptiert, und letztlich muss der Erzählakt als Start in die soziale Dimension von Trauma und Trauer verstanden werden.

Trauer wird hier nicht nur als individuelle Empfindung durch den Verlust von Personen und Dingen aufgefasst, sondern als privates und öffentliches Kommunikationsangebot, das allerdings auf Mitgefühl und Behutsamkeit besteht.

In der Periode der irakischen Diktatur war dieses Angebot zur Teilnahme an individueller Trauer verboten und konnte Verfolgung nach sich ziehen. Dadurch wurde der sozialen Dimension von Trauer der Boden entzogen, und Trauer in den privaten Bereich verbannt, wo sie unvollständig, vorläufig und daher dauerhaft quälend, weil ungenügend ausgelebt und ohne Adressaten, blieb. Das Kirkuk-Zentrum erlaubt es bewusst, im Trauerprozess aus dem privaten Bereich herauszutreten, und es lässt sich feststellen, dass dieses Angebot genutzt wird.

 

Kollektive Trauer stellt einen bedeutsamen ersten Schritt der gesellschaftlichen Anerkennung von Gewalttraumata dar. Sie findet in Kurdistan in umschriebenen Gruppen oder Gemeinschaften statt: im Dorf, im Stadtteil, im Stammesbereich, in der Großfamilie und im politischen Freundeskreis usw. Von kollektiver Trauer kann eine suggestive Wirkung ausgehen.

Kollektive Trauer (im Gegensatz zur Staatstrauer), die ein Mitempfinden voraussetzt, sucht sich in allen Gesellschaften Symbole, Feiertage und Ereignisse, die durch Ritualisierung und Wiederholung im öffentlichen Raum mehr oder minder bewusste Zwecke verfolgen. Symbole spiegeln dabei Sinn zurück, der in allgemein verständlicher Form zuvor in sie hineingetragen wurde. Es handelt sich dabei um Erinnerungen, die auch auf jene prägend wirken sollen, die keine konkrete personale Erinnerung an die Ereignisse haben. Nach gesellschaftlichen Umbrüchen kann man eine Tendenz wahrnehmen, Traditionen wieder zu beleben, wenn sie zuvor unterdrückt waren, oder neu zu erfinden, indem jüngste Vergangenheit und sehr alte Vergangenheit in eine intrinsische Beziehung gerückt werden. Was in den Ritualen auf den ersten Blick hin als historische Kontinuität erscheint, ist bei näherer Betrachtung eine Form der Legitimation von Herrschaft.

Wo soll in kollektiven Trauerritualen Herrschaft stecken? Kollektive Trauerrituale beziehen sich auf Handlungen von Akteuren (meistens werden Akteure und Rituale voneinander getrennt), die durch ihre Entscheidung ausgewählte Erinnerungen und Diskurse bestimmen, die ein historisches Ereignis und seine Folgen zum Gegenstand haben und zugleich ein Identität stiftendes Bild der Geschichte aufnehmen. Ob ein Mahnmal gebaut, ein Trauertag im Kalender fixiert, ein bestimmter Redner eingeladen, eine bestimmte Kleidung getragen oder eine bestimmte Musik gespielt wird, irgendwer oder irgendeine Gruppe bestimmt dies. Das Recht zur Bestimmung der Inhalte kollektiver Trauer im öffentlichen Raum liegt bei einer herrschenden Elite. Und diese bestimmt darüber hinaus die historischen Bezugspunkte, die sich in der Sozialisation, in der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gemeinschaft und in der Existenz von Institutionen niederschlagen.[5]) Das allgemeine und öffentliche Bild herausragender geschichtlicher Ereignisse wird so intensiv fabriziert und gefördert, bis es den Weg in die Schulbücher findet.

In Kurdistan wurde über Jahrzehnte mit einer eher heimlichen Symbolik Identität hervorgerufen. Die Farben der Flagge, die Sonne darin, die Lieder, die Lyrik und Erzählungen mussten im Verborgenen erscheinen, kurdische Bücher im Ausland verlegt werden, die Muttersprache wurde neben dem Arabischen ärmer und zweitrangig, da sie in Institutionen des Baath-Regimes mal erlaubt, mal verboten war. Der Vorwurf der Folter unter Saddam durfte nicht öffentlich erhoben, die Schrecken der zahlreichen Anfal-Operationen nicht benannt, Halabja nicht thematisiert werden. Die Ermordeten, Verschleppten, Umgesiedelten, Verschwundenen konnten in den Überlebenden und Zurückgebliebenen keinen sprachlichen und narrativen Ausdruck finden (außer im Exil). Das Leid und die Wut Einzelner blieben ohne Ausdruck im kollektiven Narrativ, weshalb es als große Erleichterung empfunden wurde, dass nach Saddams Sturz wenigstens geflüstert werden konnte. Bis zu seiner dokumentierten Hinrichtung bestand eine weit verbreitete Unsicherheit, er oder seine Günstlinge könnten die Tabus des Schweigens über die Verbrechen des Regimes wieder in Kraft setzen, wenn sie erneut an die Macht kämen. Nach dem Tode Saddams konnte ein fundamentales kollektives Menschenrecht erneuert werden: das Recht auf eine eigene Erzählung im öffentlichen Raum, in der sich Erlebnisse, Erinnerung, Erfahrung und – eng damit verwoben - Symptome verbinden.

Geschichte, deren besondere Akzente und ein gewisser Zwang zur Wiederholung in Ritualen werden gesellschaftlich produziert und haben dadurch eine affirmative Bedeutung, die als Rahmen zur Integration (und Vergessen!) einer erlebten kollektiven Trauer beiträgt. Es gibt in Kurdistan/Irak erkennbare Tendenzen, Erinnern und Vergessen zu fördern. Das mag paradox klingen. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass in den Ritualen der Fremdkörper in der kollektiven Seele einerseits reaktualisiert wird (wenn man diese Analogie zur individuellen Verarbeitung gestattet) und andererseits in diesen ritualisierten Wiederholungen erst dem Vergessen (Verblassen) anheim fallen kann.

Es gab in der jüngeren Vergangenheit folglich über die Leiden der kurdischen Bevölkerung stets eine verheimlichte Erzählung, die sich gegen die offizielle und geschriebene zu bewahren suchte. Und heute gibt es Bestrebungen, diese heimliche kollektive Erzählung zu verkürzen auf wenige heroische Akteure und sie der kollektiven Bedeutung und Identität zu entkleiden. (Eine Gesellschaft, die keine Helden braucht, ist einer vorzuziehen, die Helden zu produzieren für notwendig hält, sagte Bertold Brecht) Eine mündlich überliefernde Gemeinschaft, der die schriftliche Fixierung von Quellen und Aussagen verwehrt wurde, ist wohl besonders vulnerabel im Wandel vom Totalitarismus und durch die Gefahr einer Umdeutung ihrer Erinnerung. In der heimlichen Erzählung war ein kollektives Subjekt bereits in einer Weise enthalten, die es heute schmerzlich macht, wenn in der kollektiven Erzählung die Erinnerungen Einzelner nicht mehr vorkommen oder beträchtlich von der Wahrnehmung Einzelner abweichen.

Man kann nicht mit einem Meisel eine Taschenuhr reparieren, wohl aber zerstören. Das Werkzeug legt die Grenzen der Handhabung fest. Genauso ist es mit dem Gegensatz von individueller und kollektiver Erinnerung und Erfahrung. Heute beklagen sich nicht wenige Kurden mit traumatischer Erinnerung, ihre Zeitzeugenschaft finde sich in der offiziellen Lesart nicht wieder. Der öffentliche Gebrauch der Historie[6] kann seinerseits zu traumatischer Geringschätzung bei verfolgten Individuen führen.

Daher bezieht das Zentrum für Folteropfer in Kirkuk seine Legitimation auch aus der Tatsache, dass traumatische Erfahrung einen Raum der Anerkennung außerhalb der offiziellen Geschichtsschreibung, der Sprache und der kollektiven Rituale braucht, in dem es sich mit der Einzigartigkeit und Differenz zu anderen Schicksalen konfrontiert. Dabei entsteht durch die Anerkennung des Anders-Fühlens und der anderen Selbstbeschreibung eine Vorstellung von einem Individuum, das in einem politischen, psychologisch-wissenschaftlichen Kontext in Kurdistan ohne Tradition ist und möglicherweise den Forderungen des Kollektivs widerspricht. Ein Blick in die Rahmenpläne eines Psychologiestudiums in Irak zeigt eine enge Beziehung von der Psychologie zur dogmatischen Pädagogik. Die Konstruktion eines einzigartigen Individuums mit einer je individuellen Psyche kommt darin nicht vor. Leider sind uns keine vergleichenden Studien bekannt, die den Inhalt, die Richtung und die Ausdehnung einer „orientalischen“ Psychologie als Wissenschaft thematisieren. Nur in seltenen Fällen werden Studenten, die durch Schulpflicht und gehobenes Bildungsniveau bei Mädchen und Frauen zahlreicher werden, mit „westlicher Psychologie“ bekannt gemacht. Allein im multireligiösen Libanon ist die Beschäftigung mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse ansatzweise zu finden[7]. Weil es aber keine Tradition der individuellen Erzählung im kollektiven Narrativ als oral history (außer Heldengeschichten) gibt, sieht das Zentrum in Kirkuk eine Aufgabe darin, ein Archiv der erzählten Einzelschicksale zu befördern und dabei auch die sozialen Auswirkungen von Verlusten, von verschwundenen Angehörigen und kultureller Entmündigung und nachhaltiger Entfremdung nicht zu vernachlässigen. Als Vorbild mögen die gesammelten Aufzeichnungen von Gesprächen mit Überlebenden der Shoa dienen, die sich in ihrer fixierten Subjektivität gegen die historischen Verwandlungen durch spätere Generationen wehren.

Landläufig wird hierin eine Aufgabe von Historikern gesehen. Historiker befinden sich in gewisser Weise im Vorteil, weil sie den vertrackten Begriff der Psyche vermeiden. Dadurch wird ihre Zeitgeschichte allerdings um eine bedeutsame Dimension ärmer. Hierin liegt jedoch ein Impuls für das Zentrum in Kirkuk, nämlich daran mitzuwirken, ohne Pathos, aber mit Empathie ein angemessenes Bild von Opfern zeichnen zu lassen. Die Erzählungen der verfolgten Opfer bilden ein Geschichtsbuch, das auf kritischer Empathie beruht und denen ein Gesicht und eine Stimme gibt, die Saddam versuchte auszulöschen, ohne Spuren zu hinterlassen[8]. Wenn die Verwischung von Spuren ein Ziel der Diktatur war, so wäre es für die Überlebenden unerträglich, wenn nachfolgende Generationen sich an der Tilgung von Spuren beteiligten. Künftige Sinnsuche kann auf Spurensuche nicht verzichten.

Das Justizministerium in Bagdad hat ein Referat eingerichtet, das sich mit dem Auffinden und Identifizieren von menschlichen Gebeinen in Massengräbern befasst. Über 300 Massengräber sind bislang (2006) registriert worden. Weitere 150 Orte sind identifiziert, darunter zahlreiche auf dem Gebiet von Kurdistan/Irak. Zahlreiche verschwundene Kurden liegen dort. Sie sind in den Anfal-Operationen verschleppt worden und nie wieder aufgetaucht. Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend Männern und Frauen aus. Inspirierend ist zu diesem Komplex der unabgeschlossenen Trauer die politisch sich verstehende Studie von Ludmilla da Silva Catela über die Situation in den Familien von Verschwundenen[9]. Die Gewissheit über den Tod von Angehörigen ermöglicht einen Abschluss der Trauerarbeit.

Im Zusammenhang mit „therapeutischer Annäherung“ ist der „Experte“ immer wieder mit Einzelerzählungen konfrontiert, die er selbst in seinen Erfahrungshorizont einpassen und zugleich vor der Relativierung und Homogenisierung durch offizielle Geschichte bewahren muss. Diese doppelte Herausforderung lässt sich eigentlich nur bewältigen, wenn der aus dem klinischen Bereich abgeleitete Begriff „Therapie“ vermieden bzw. neu formuliert wird.

Dazu bieten sich zwei Wege an: Das Trauma aus politisch-herrschaftlichen Motiven der Vergangenheit ist nicht im klinischen Sektor zu beheimaten, was durch einen elaborierten Begriff einer „sozialpsychologischen Entfremdung“ (s. in einem hinteren Aufsatz den Beginn einer Begriffsentwicklung), die in eindeutiger Weise die gesellschaftliche Verantwortung für einen traumatisierten Menschen formuliert, denkbar ist. Oder Therapie wird verdichtet auf das Recht, persönliche Erzählung von traumatischen Erlebnissen einem empathischen Zuhörer im geschützten Ambiente vorzutragen und die Erzählung behutsam befragen zu lassen. Jede Form der erneuten Enteignung von Biographie sollte hierbei vermieden werden.

Dadurch würde mit einem Schlage die Illusion der Heilung von Erinnerungsmaterial beendet. Dort aber, wo sich, wie in Kurdistan, Tendenzen zur Somatisierung oder generell zur Symptombildung zeigen, vermag die öffentliche Anerkennung der Ursachen, der Spaltung der Gesellschaft in Mittäter und Geschädigte und die in Wiederholungen inszenierte Verallgemeinerung eines kollektiven, Identität stiftenden Traumas die Einzelpersonen dazu zu bringen, die allein unter einer klinischen Beschreibung existierenden Symptome in einem empathischen kollektiven Deutungsprozess zu exkorporieren. Jede Symptombildung ist ein später Triumph der Willkürherrschaft, an deren Verschmelzung eine betroffene Persönlichkeit unbewusst und mit Schuldgefühlen teilhat, was, wenn dies bewusst wird, den Druck und die Schmerzen verstärkt. Willkür- und Terrorherrschaft finden somit Zugang zum Unbewussten eines Opfers und hinterlassen dort Spuren. Hat sich der Terror erst einmal im Unbewussten einer einzelnen Person verhakt, können nur noch Erfahrungen von Gemeinschaft, Zugehörigkeit und kollektiver Trauer diesen Einfluss mildern. Individuelle Psychotherapie erscheint angesichts des Massenelends nicht nur als Luxus, es fehlen in Südkurdistan letztlich die Denktraditionen, die eine Übertragung „westlicher Seelenkonzepte“, die für Zentraleuropa ihren Ausgang im 19. Jahrhundert nahmen, erlauben würden. In Südkurdistan wird die Relevanz dieses Konzepts von den eher wenigen vorhandenen Akteuren in der „Seelenheilung“ zumindest in Frage gestellt. Vielmehr halten wir eine Kombination aus den genannten beiden Wegen in Kurdistan/Irak für sinnvoll. Und dies ist im Wesentlichen eine gesellschaftliche und multidisziplinäre Aufgabe, die jeden Anklang an Herrschaft und Abhängigkeit zu vermeiden hätte.

 



[1][1] Adam Phillips (2001) Die Sache in Gang halten. In Judith Butler: Psyche der Macht. Frankfurt/M. Suhrkamp. S. 143-150, Zit. S. 144.

[2] Vergl. Paul Ricoeur (2006) Wege  der Anerkennung. Frankfurt/M. Suhrkamp; S. 147ff.

[3] Pierre Bourdieu (1998) Praktische Vernunft – Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/M. Suhrkamp, S. 154ff.

[4] Aldo Giorgio Gargani (2001) Die religiöse Erfahrung. In Jacques Derrida & Gianni Vattimo: Die Religion, Frankfurt/M. Suhrkamp. S. 144- 171, Zit. S. 157.

[5]  Eric Hobsbawm, Terence Ranger (Hrg) (4. Aufl., 2006, zuerst 1983) The Invention of Tradition, CUP, S. 9

[6] Jürgen Habermas (1987) Historikerstreit, München, S. 243-255

[7] (Vergl. Diss. Phil. Universität Genf: Katrin Hartmann (2007) Die Psychoanalyse im Libanon, Berlin, Verlag Hans Schiler

[8] Enzo Traverso (2007) Gebrauchsanleitungen für die Vergangenheit, Unrast-Verlag, Münster, S. 35

[9] Ludmilla da Silva Catela (2001) No habrá flores en la tumba del passado, La Plata.