Von Sepp Graessner

Trauma, zumal als Psychotrauma, hat den Rang einer Diagnose. Retraumatisierung ist keine Diagnose, vielmehr eher eine Handlungsform gegenüber einer traumatisierten Person.

Reutraumatisierung ist ein Begriff, der oft leichtfertig verwandt wird. Retraumatisierung ist schwer fassbar und enthält dennoch eine scheinbar klare Bedeutung. Bedeutung und Verwendung dieses Begriffs weisen in verschiedene Richtungen. Die Verwendung des Begriffs mahnt und warnt vor Handlungen, die zu einer erneuten Traumatisierung führen. Solche Warnungen richten sich an alle diejenigen, die einen traumatisierten Menschen grob behandeln, vorsätzlich oder aus Unwissen, oder ihn in eine Glaubwürdigkeitsprüfung ziehen, die seinen Aussagen, Handlungen und Verhalten gilt. Die mahnende Rede von der Retraumatisierung fordert einen behutsamen Umgang mit Menschen, die in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen.

Retraumatisierung kann durch äußere Umstände – Kommunikation und Handlungen – verursacht werden. Ebenso kann sie durch innere Wiederholungen als bildliche oder sonstige sensorische Erinnerung entstehen. Retraumatisierung ist deshalb so schwer erfassbar, weil im Wort Retraumatisierung enthalten ist, dass eine einem ursprünglichen Trauma gleiche Reaktion einsetzt und diese gleiche Wirkungen hinterlässt wie das ursprüngliche Trauma.

Da es ohne Gedächtnis keine Retraumatisierung gibt, stellt sich die zentrale Frage nach der Bedeutung und nach dem Mechanismus von Gedächtnis. Denn erst, wenn die Erinnerung eine Beziehung zwischen einem aktuellen Ereignis und einem vergangenen Trauma herstellt, ließe sich von Retraumatisierung sprechen.

 

Erläuterndes Beispiel:

Ein Mensch, der durch Haft und Folter traumatisiert wurde, wird, nach allgemeiner Auffassung und Praxis, in seinem Asylverfahren in einem anderen Land mit skeptischen Haltungen und Blicken, mit demonstrativer Ungeduld und  Spott zu seinem Verfolgungsschicksal befragt.

Später sagt dieser Mensch, er habe sich wie in einem Verhör gefühlt. Er sei wie gelähmt gewesen und habe sich nicht mehr konzentrieren können. Sein Erinnerungsvermögen habe schlagartig und ohne Vorankündigung Bilder aus der Folter inszeniert.  Diese Bilder von Grausamkeiten hätten ihn erneut gefangen genommen. Seine Aufmerksamkeit sei umgelenkt worden und er habe sich den realen Forderungen gegenüber hilflos gefühlt.

 

Diese Schilderung halten wir für überzeugend, weil sie an unsere eigenen Erfahrungen anknüpft. Wir halten zudem die Wirkungen der heraufziehenden Bilder für wirklich. Wir kennen solche Bezüge nicht nur aus der Literatur, sondern auch aus der Betrachtung unserer eigenen Natur. Wir haben es mithin mit einer Mixtur aus Natur und gesellschaftlicher Bearbeitung (Bericht, Erzählen, Sprache) zu tun, die in unserem Kulturkreis verschiedenen Disziplinen zugeordnet wird.

Retraumatisierung durch z.B. behördliche Zweifel und Skepsis, durch Gerüche, Geräusche, räumliche Enge usw. hat mithin einen gleichen oder verwandten Effekt wie das Erlebnis einer lebensbedrohlichen Tortur. Die Wiederholung als Gedächtnisakt produziert die Lähmung durch Affekte. Erst im Subjekt wird durch ähnliche, andrängende Affekte eine Verbindung von z.B. Asylverfahren und Folter hergestellt. Die objektiven Auslöser haben eine sehr unterschiedliche Kraft und führen doch zu einer emotionalen Verwandtschaft. Warum also können der geäußerte Zweifel, der laute Ton, die Abhängigkeitssituation im Asylverfahren oder demonstrative Ungeduld zu Bildern führen, die allein durch ein menschliches Gedächtnis eine Beziehung zu Folterverhören herstellen? Die Verwandtschaft besteht hier in einer Ähnlichkeit der subjektiven, existenziellen Situation, in der externen Macht über subjektiv generierte Bilder aus der Vergangenheit eines anderen Menschen. Ohne Machtäußerungen gibt es keine Assoziationen an Ohnmacht mit konsekutiver Hilflosigkeit und die damit einhergehenden Affekte von Angst, Panik, Handlungsarmut.

Es ist folglich das Gedächtnis, das bewusste oder unbewusste Beziehungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit herstellt. Szenische Bebilderungen im Erinnerungsvorgang können als aktive Intentionen auftreten, wenn sich ein Mensch an seine Kindheit oder Lernresultate erinnern will. Die weitaus meisten Inszenierungen sind nicht von Vorsätzen abhängig; sie schießen ein vor ein geistiges Auge, womit das menschliche Gehirn nicht nur eine Bühne repräsentiert, sondern zugleich den Betrachter.

Auslöser von Retraumatisierungen sind in der Gegenwart selten bewusste oder bewusst wahrgenommene Akte. Die Gedächtnisprozesse, die im Subjekt in Gang kommen, können vegetativen Ursprung haben. Sie sind von emotionalen, atmosphärischen Stimuli abhängig. Auf sie kann sich der Mensch nur ungenügend vorbereiten. Solche Prozesse sprechen für eine Autonomie des Gehirns und seine eigene konstruierende Ausdrucksweise. Welchen Zweck verfolgt das Gehirn dabei? Indem das menschliche Gehirn an verwandte, strukturell ähnliche Erfahrungen erinnert, sucht es zu verhindern, dass eine erneute Ohnmachts- oder Angstempfindung einsetzt, obschon der Effekt der Assoziationen eine Wiederholung oder Fixierung begünstigt. Der traumatisierte Mensch fordert heraus und testet das Ausmaß seiner Abwehr gegenüber retraumatisierenden Erlebnisse, realen und selbst generierten. Hierin liegt das Dilemma, weil eine Zweckdeutung immer eine von außen herangetragene Deutung ist, die alternative Betrachtungen nicht zulassen möchte.

Retraumatisierung wird zumeist nicht als intentional verstanden. Sie kann ohne Absichten ausgelöst werden, durch eher zufällige sensomotorische Reize, die ein zuvor Traumatisierter empfängt und in einen Kontext bringt, der nur ihm zugänglich ist. Dadurch wird Retraumatisierung zu einem Als-ob-Trauma, wenn man sie von außen betrachtet. Indem das Als-ob-Trauma ein Subjekt an ein zuvor erlittenes Trauma erinnert, besitzt es in einem physikalischen Sinne nicht dieselbe Gewaltintensität wie ein primärer Traumaauslöser. Er kann jedoch ähnliche Affekte wie Angst oder Starre auslösen, wenn er berichtet wird. Die künstliche Trennung auslösender Momente erzielt eine verwandte Wirkung. Es ist nicht die ursprüngliche Wirkung und nicht die ursprüngliche Reaktion. Warum?

 

Auch ein von uns als ursprünglich bezeichnetes Trauma trifft auf ein Gedächtnis, das bereits Erfahrungen enthält, die mit der bedrohlichen Gewalt in Beziehung treten, sei es im Körper oder in einer Psyche. Erstmalige Sinneseindrücke haben die Neubildung von neuronalen Verbindungen zur Folge. Bei Wiederholungen kommt es zu Netzwerken, die Struktur bildend wirken. Es entsteht das physiologische Korrelat dessen, was wir lernen nennen.

Das primäre Trauma kann folglich nur als Sinnentleerung oder Sinnverwirrung verstanden werden, wenn zuvor bereits Sinn vorhanden war. Es kann nur überwältigt werden in einem psychophysischen Sinne, was sich als „Schwäche,“ als überwältigungsfähig konstituiert hat. Und ein Subjekt kann nur solche Symptome hervorbringen, für die bereits ein struktureller Rahmen eingerichtet wurde. Die meisten Coping-Techniken für traumatische Erlebnisse gehen heute davon aus, dass lebensgeschichtliche Erlebnisse jene Strukturen ausgebildet haben, mit denen auf kleinere oder extreme Traumata reagiert wird. Die Strukturbildung für eine Traumaverarbeitung, z.B. als Folge von Abhängigkeit von primären Bezugspersonen oder als Reaktion auf Gebote und Verbote, ist in der Vergangenheit bereits abgeschlossen, wenn ein Mensch im fortgeschrittenen Alter von extremen traumatischen Erlebnissen betroffen wird. Damit wird bestritten, dass das Werkzeug zur Bearbeitung traumatischer Erlebnisse erst bei der Arbeit an traumatischen ‚Gegenständen’ entsteht. Emanzipation von traumatischer Starre bedeute daher erstens einen Löschvorgang in den neuronalen Strukturen für Strukturbildung und zweitens einen Lernvorgang oder eine „Neubeschreibung“ von Fasern, die strukturelle Funktionen einnehmen. Das ist das vorherrschende Wirkprinzip der Verhaltenstherapien. Dies wird heute von jenen Forschern favorisiert, die der Extinktionsmethode (Extinktion gleich Löschung) anhängen. Es handelt sich vermutlich um eine simplifizierende Analogie zum Computermodell, das der Komplexität der psychophysischen Vorgänge kaum gerecht werden kann.

Retraumatisierung, wie wir sie heute als Begriff und Warnung gebrauchen, wäre demnach eine Stimulation jener Strukturen, die durch zuvor erfahrene Lebensgeschichte und Sinneseindrücke gebildet wurden. Als Vermittler tritt hierbei das Körpergedächtnis auf. Wenn man folglich behauptet, das Erlebnis eines extremen Traumas sei zu einer symbolischen Verarbeitung (z.B. der sprachlichen Decodierung) nicht in der Lage, so ist dies Teil einer Mystifikation, denn es handelt sich dabei um eine mechanische Betrachtung, die ein Steckenbleiben der überwältigenden Erlebnisse unterhalb der Hirnrinde annimmt und eine vernetzte Fortleitung in Bewusstseinsareale ausschließt. Solche Betrachtung nimmt therapeutischen Modellen die Überzeugungskraft, mit der behauptet wird, man könne im therapeutischen Prozess eine Beziehung zu retinierten Sinneseindrücken durch Sprechen über das Trauma herstellen, nur dem Fachmenschen sei der Zugang zum Verborgenen, Unaussprechlichen nicht verwehrt.

Schwierigkeiten bereitet demnach die Vorstellung einer Retraumatisierung, die dann angenommen wird, wenn ein extremes traumatisches Erlebnis zwar nicht symbolisierbar sei, aber dennoch Beziehungen herstellen kann zu späteren Erlebnissen (und umgekehrt), mithin  ein unkontrollierbares Eigenleben im Gehirn führt. Nun könnte man sagen, wenn spätere Ereignisse bildhaft und affektiv an ein frühes Trauma anknüpfen können, dann könnten therapeutische Aktionen gleichfalls daran anschließen. Das ist wohl richtig. Es erhebt sich allerdings die Frage, was darin die wirksamen Komponenten sind, die zu mobilisieren einem Traumatisierten nicht möglich ist.

Die Erfahrung der Retraumatisierung ist therapeutisch zu nutzen. Der Therapeut sollte nicht ohne weiteres vom Bericht einer Retraumatisierung auf die genannte Ursache schließen. Oftmals sind dem Erzähler nicht alle Chiffren  bewusst. In der Praxis wird aber im Allgemeinen durch den Klienten eine Beziehung zu einem früheren Trauma des Erwachsenenalters hergestellt. Dieser wird dann vielleicht sagen: „Heute hatte ich ein Erlebnis, bei dem mir vergangen geglaubte Bilder gegenwärtig geworden sind. Ich habe mich dabei passiv und schlecht gefühlt.“ Die Abwehrmechanismen gegen Retraumatisierungen oder deren Versagen können zu Ansatzpunkten einer Betrachtung und Einübung  von Alternativen zu Passivität und Angst werden.

Wenn im Verlauf eines therapeutischen Prozesses eine Stagnation eintritt, ist nicht selten eine Form der so genannten Retraumatisierung im Spiel. Dies kann als reales Erlebnis von Ohnmacht und existenzielle Abhängigkeit auftreten, das einer zuvor unverdauten Traumatisierung gleicht oder sensomotorisch daran erinnert. Dabei handelt es sich nicht um eine Vermutung oder Interpretation, der Klient selbst stellt die Verbindung her. Therapeuten stellen dann ihrerseits das Erlebnis einer realen oder assoziativen Retraumatisierung mit einer Stagnation in Beziehung, wenn der Klient Zeichen gibt, er sei durch das Erlebnis in seiner Traumaverarbeitung zurückgeworfen worden. Für den Therapeuten bedeutet dies zweierlei: Erstens ist sein Behandlungserfolg gefährdet, und zweitens muss er einräumen, dass sein versprochener und angestrebter Schutzraum seine Wirksamkeit nicht überall im Alltag entfaltet. Es sind immer soziale und kommunikative Situationen, die zu einer Passivität, Angst und Resignation bei einem Klienten führen. Und möglicherweise genau dort sind die Hebel gegen Retraumatisierung, die niemals durch komplette Vermeidung sozialer Kommunikation oder Rückzug zu erzielen ist, anzusetzen.

 

Wenn wir Symptome als Sprache der Traumaverarbeitung in einer individuellen Struktur auffassen, dann ist jede gezielte Symptombearbeitung durch Therapeuten nur dadurch möglich, dass einzelne Symptome ohne Gesamtkontext angegangen werden, gleichsam ohne ein Verständnis der Sprache und seiner strukturellen Grammatik. Denn wenn sich die Grammatik aus der individuellen Lebensgeschichte bildet, muss man den Elementen dieser Lebensgeschichte nachgehen, um auf die individuelle Sprachnutzung zu stoßen. Es genügt keineswegs, nur einige ausgewählte Kapitel zu erfassen, was zu den Fragen führt: Was können wir eigentlich von anderen Menschen und ihren Mechanismen verstehen? Ist ein psychologischer und neurobiologischer Reduktionismus überhaupt in der Lage, die Komplexität einer Traumaverarbeitung von Anderen zu begreifen? Müssen wir uns mit Annäherungen begnügen? Auch Annäherungen wie Fürsorge, Solidarität, konkrete Hilfsbereitschaft können positive Wirkung haben, wenn sie die eigene Verletzlichkeit in Rechnung stellen.

Landläufig gehen wir davon aus, dass Traumatisierte über eine verminderte Impulskontrolle verfügen, weshalb Traumaopfer ohne offensichtliche innere Widerstände zu Tätern werden können. Sie müssen keineswegs in der Opferrolle verharren. Wenn sie wütend werden als Folge einer subjektiven Wahrnehmung, sind wir geneigt, in dieser Emotion ein gewisses Widerstandspotenzial gegen die von Retraumatisierung ausgelöste Passivität zu sehen. Meistens zerbricht diese Möglichkeit sehr schnell durch Macht in den Institutionen, und wir finden eine Summe von Machtäußerungen auf Seiten der Institutionen und eine Summe von Ohnmachterlebnissen auf Seiten des Klienten. Das bedeutet, wer Wut und damit bedrohliche Gebärden zeigt, wird seit der Kindheit sogleich mit der Angst konfrontiert, die als Macht gestütztes Verbot von Wut auftritt. Retraumatisierend ist in solchen Fällen, dass ein Muster wiederholt wird, das Schuld produziert. Weil die Impulskontrolle versagt, liegt die Schuld für Machtäußerungen in Institutionen beim Klienten. Er soll sich selbst beschuldigen. Diesem Mechanismus schreibe ich den eigentlichen retraumatisierenden Kern zu. Solche Wiederholungen können, zumal nach Foltererlebnissen, Resignation und depressive Verstimmungen hervorrufen.

In den Registern von Klassikern der Psychotraumatologie findet sich kein Hinweis auf Retraumatisierung, weder in Freuds oder Ferenczis gesammelten Werken noch in den gegenwärtigen Lehrbüchern von Fischer/Riedesser oder van der Kolk. Erst im von Maercker 2009 herausgegebenen Lehrbuch findet sich dieser Begriff samt zugehöriger Definition. Es handelt sich entweder um einen neuen Begriff oder der Gebrauch von Retraumatisierung drückt sich vor der Erforschung und dem Verständnis von Gedächtnis und dem Einfluss von Erinnerung auf das individuelle Befinden und fokussiert allein auf die hinderlichen Wirkungen auf einen Behandlungserfolg. Hinter dem Gebrauch von Retraumatisierung steht ein Phantasma, das bei Traumatisierten die Symptomstabilisierung von kommunikativen und sensomotorischen Einflüssen abhängig macht. Der Geruch einer Zigarre, die an Folterbilder erinnert, ist im Alltag schwer vermeidbar. Ebenso wenig sind Uniformen generell zu vermeiden wie machtvolle Attitüden usw. (obwohl ihre Abschaffung schön wäre und eigentlich Ziel von Politik, womit das Phantasma beschrieben wäre.)

Auf der einen Seite bedeutet der Gebrauch von Retraumatisierung die Feststellung, dass der kommunikative Umgang mit Traumatisierten in den klinischen Bereich hineinführen könne (Worte können schlimme Wirkungen haben, was man seit Jahrtausenden weiß). Er ist gleichsam eine Warnung vor der potenziell beschädigenden Wirkung von Kommunikation. Auf einer anderen Seite schreckt der Gebrauch des Wortes Retraumatisierung vor Äußerungen zurück, die einen traumatisierten Menschen an ein schmerzliches Ereignis erinnern könnten. Sollen wir also bewusste oder unbewusste Erregungen von Erinnerung an traumatische Erlebnisse vermeiden? Bewusste Erregungen können wir fraglos mit hinreichender eingeübter Empathie vermeiden. Sollen wir unbedingt vermeiden, dass sich störende Einflüsse in unseren gewünschten Therapieerfolg mischen? Sollen wir überhaupt nur behutsamer im Umgang mit anderen Menschen sein? Sollen wir um traumatisierte Menschen herum ein System von Rücksicht installieren? Sind traumatisierte Menschen das Zentrum einer gewünschten Reorganisation von Kommunikation? Und kann man sich eine solche Reorganisation vorstellen, ohne die Machtfrage zu stellen, die in den meisten therapeutischen Zugängen vermieden wird, weil sie ein ambivalentes, vielfach ungeklärtes Verhältnis zur Macht enthüllen könnten?

 

Man muss ohne Frage auch die Rolle wiederholter Flashbacks bei der Frage nach der Bedeutung von Retraumatisierung stellen. Diese eigengenerierten Bilder können nach einem mechanistischen Verständnis gleichfalls zu Empfindungen und Emotionen führen, die an ein zuvor erlebtes Trauma erinnern und definitionsgemäß zu Angst, Hilflosigkeit, Kontrollverlust und Ohnmacht führen, ja sie lenken direkt in ein identisches Erleben wie im Trauma. Solche zentralen Stimuli können durch äußere oder innere Kräfte ausgelöst sein. Sie sind vorgeblich im Labor nachzustellen und zu erfassen.

Kehren wir zu Maerckers Definition von Retraumatisierung zurück. Sie lautet:

 

Als Retraumatisierung werden Vorgehensweisen bezeichnet, die die Patienten nur emotional belasten und keine nachhaltigen Erleichterungen verschaffen. In ihrer schlimmsten Form können sie, bedingt durch die mangelnden emotionalen Stabilisierungsmöglichkeiten des Traumatisierten, zu einer lang anhaltenden Verschlechterung führen. In der weniger schwer wiegenden Form kommt es zu einer Reaktualisierung des Traumas, die der Betroffene zwar selbst zu bewältigen imstande ist, die aber kurzfristig zu einer Verschlechterung führen kann.

 

Diese Definition stellt klar, dass es sich bei einer Retraumatisierung nicht um eine erneute, der vorgänglichen Traumatisierung identische Verletzung handelt, vielmehr sei mit diesem Begriff „nur“ um eine emotionale Belastung gemeint. Man könnte somit sinnvoller von einer posttraumatischen emotionalen Belastung sprechen, die durch Verhaltensmuster, die an ein früheres Trauma erinnern, ausgelöst werde.

Ein weiterer Begriff wird eingeführt. Re-Aktualisierung ist die weniger gravierende Schwester von Retraumatisierung.

Kaum ein Mensch ist in der Lage, die Re-Aktualisierung von einer Retraumatisierung zu unterscheiden. Beide machen ein erlittenes Trauma aktuell, holen es aus der eingelagerten Vergangenheit in die reale Gegenwart, unterscheiden sich allerdings in der Ausgeliefertheit an die begleitenden Emotionen. Die Re-Aktualisierung wäre demnach dadurch gekennzeichnet, dass der Erinnerungs- oder Assoziationsprozess zwar nicht bewusst einsetzt, jedoch die Abwehr gegen Angst und Hilflosigkeit so erfolgreich aufgebaut ist, dass eine nur kurzfristige Verschlechterung der Symptomatik resultiert. Das heißt, Menschen, die gezwungen werden, eine traumatische Situation zu reaktualisieren oder sich einer Retraumatisierung auszusetzen, würden am liebsten vergessen und gar nicht an ihr Trauma  erinnert werden.

Ist die drohende Abschiebung, die eine Behörde plant, durch eine subjektiv antizipierte, existenzielle Bedrohung eine Reaktualisierung oder Retraumatisierung? Nach der Definition muss es sich um eine Retraumatisierung handeln, denn die betroffene Person ist nicht in der Lage, durch eigenes Handeln oder emotionale Selbststabilisierung der Bedrohung entgegenzutreten. Eine Unterscheidung wird, der Definition entsprechend, nur dadurch möglich, dass aus dem therapeutischen Raum ein Urteil über die Nachhaltigkeit der Störeinflüsse gefällt wird. Nur der Therapeut ist demnach in der Lage, aus der Dauer der Verschlechterung des Patientenbefindens auf einen Prozess zu schließen, der sich subjektiv im Gehirn/Körper des Traumatisierten, der als solcher zuvor vom Therapeuten definiert wurde, abspielt. Es ist der Zweck, fährt Maercker fort, der das therapeutische Vorgehen einer Traumafokussierung von einer Retraumatisierung unterscheidet. Der Therapeut will heilen und unterstützen, will eine Transformation des Traumagedächtnisses innerhalb eines stützenden Kontextes ermöglichen. Solche Betrachtungen wirken idealistisch, wenn man die Zahl der Abbrecher berücksichtigt, die im therapeutischen Prozess wirksamen Machtkonstellationen nicht würdigt und retraumatisierende Einflüsse allein auf eine ignorante Außenwelt projiziert. Nach meiner Auffassung sind es vor allem die unwillkürlichen szenischen Erinnerungen und die Träume, die retraumatisierend wirken und sich mit jedem neuen Auftauchen tiefer in die Gedächtnismatrix einschreiben. Sie werden im Subjekt generiert und können als Bearbeitung des Gehirns verstanden werden. Wir konnten gerade bei Asyl suchenden Flüchtlingen beobachten, dass durch die Form ihrer rechtlich entmutigenden Behandlung im lange währenden Asylverfahren eine Matrix für Passivität gebildet wurde, die zudem durch regressive Traumafolgen verstärkt wurde. In dieses Muster von Passivität und Perspektivlosigkeit werden alle jene Erlebnisse integriert, die wir bei dieser Klientel als Retraumatisierung (Rechtsarmut, Unterwerfung) bezeichnen. Solange also dieses Muster von Passivität nicht durch motorische Aktivitäten wie Arbeit, Tanz, Sport, Demonstrationen usw. verdrängt wird, bleibt es das hintergründig wirksame System, in das „retraumatisierende“ Erlebnisse eingeordnet werden. Hinter dieser Auffassung steht meine Überzeugung, dass körperliche Motorik bei der Entschärfung traumatischer Erinnerungen eine bedeutende Rolle spielen kann.

Wenn ein zuvor als traumatisiert diagnostizierter Flüchtling in einer rassistisch motivierten Attacke angegriffen und verletzt wird, können wir bedenkenlos von Retraumatisierung im Sinne von erneuter Traumatisierung sprechen, weil es sich wie einem Foltertrauma um ein Verbrechen handelt, das nicht nur emotionale Reaktionen aufweist wie bei einem zuvor erlittenen extremen, menschenrechtswidrigen Trauma, sondern durch die Verletzung von elementaren Rechten eine parallele Ebene zur psychophysischen Verletzung einzieht, die, wenn sie ungeahndet bleibt, zur Verzweiflung führen kann. Dabei handelt es sich um eine Verletzung des sozial hervorgebrachten Sinns für Gerechtigkeit, Angemessenheit, Verhältnismäßigkeit, eines Sinns also, der um den Gebrauch bzw. Missbrauch von Macht kreist. Machtmissbrauch steht am Anfang eines Traumas, er begünstigt das, was wir schwammig Retraumatisierung nennen, und Machtmissbrauch bildet den Schnittpunkt zu einem sozialen Sinn, der verletzt wird.

Therapie bedeutet daher immer wesentlich Analyse der Machtkonstellationen, deren Missbrauch zu einer Symptomatik führte. Dabei wird man wie ein Archäologe zum Ursprung von Macht zurückkehren, zu jener Vergangenheit, als sich Willkür über Gleichheit emporschwang, als Bewusstes und Unbewusstes noch eins waren. Erst in der Analyse der Macht (kognitiv, szenisch, symbolisch) begegnen wir nicht nur der Ohnmacht des Klienten, sondern uns selbst. Sie ist im Bewusstsein, dass der Ursprung unerreichbar ist, Ausgangspunkt für eine Ermutigung zum Widerstand: im eigenen Körper und in sozialen Einheiten.