Nachruf zum Tod von Dr. med. Sepp Graessner, Gründungsmitglied des
Behandlungszentrums für Folteropfer e.V.


Von Dipl.-Psych. Ralf Weber


Nach langer Krankheit ist am 15. Februar 2022 im Alter von 78 Jahren Dr. med. Sepp Graessner
verstorben. Sein frühes Augenmerk auf die Leistungsmedizin während des Nationalsozialismus
und den Umgang mit Holocaustüberlebenden in der Nachkriegsära hatten ihn 1990
zum Engagement beim Behandlungszentrums für Folteropfer e.V. (BZFO) geführt. Als Gründungsmitglied
und Mitarbeiter wurde er eine der prägenden Säulen der Einrichtung, die sich
Jahre später in Zentrum Überleben gGmbH umwidmete. Seine klinische Tätigkeit begann
Sepp Graessner (geb. 1943) im BZFO als niedergelassener Arzt, Notfallmediziner, Tropenmediziner
und Hygieniker. Jedoch verstand er sich in seinem beruflichen Handeln auch als
Sozialmediziner, Psychologe, Therapeut, Dozent, Ethiker, Ausbilder und Menschenfreund.
Seine berufliche Tätigkeit war dabei stets getragen von einem gesellschaftspolitischen Impetus:
Es ging ihm um die Verbesserung der Lebensbedingungen von traumatisierten Menschen,
auf wissenschaftlicher Basis und weniger um Rechthaberei oder Ruhm. Ich habe Sepp Graessner
bei meinem beruflichen Einstieg 1994 in das BZFO kennen gelernt und habe ihm persönlich
viel zu verdanken. Sein Engagement und seine Courage, seine Authentizität, seine
Leidenschaft und Hartnäckigkeit, mit der er die Anliegen der ihm anvertrauten Patient*innen
vertrat, bleiben mir stets in vorbildlicher Erinnerung.

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(Nach anregender Lektüre)

 

Wir haben uns in der Vorstellung eingerichtet, dass traumatisierte Flüchtlinge ausschließlich als Opfer von Gewalt/Macht zu betrachten seien, obwohl sie mit ihrer Flucht dem Opferstatus partiell entronnen sind. Flucht ist eine adäquate Reaktion auf bedrohliche Auslöser. Ein differenzierter Widerstand vor, während und nach der Flucht wird von einigen Therapeut*innen thematisiert, wenn sie auf der Suche nach Ressourcen und Resilienz bei Klient*innen sind. Dennoch legitimiert die unterstellte oder wahrgenommene Bedürftigkeit die vorwiegende Betrachtung als Opfer. Die rhetorische Änderung des Opfers in eine überlebende Person im Machtgefälle der therapeutischen Situation kann keine andere Betrachtung als die eines Opfers hervorbringen, weil in unserem Denk- und Sprachsystem die leidende Person stets als Opfer illegitimer Gewalt konzipiert wird. Einer solchen einseitigen, oftmals lebenslangen  Festlegung soll hier mit einer anderen Akzentuierung widersprochen werden. Es geht folglich darum, die Selbstwahrnehmung von Flüchtlingen in eine Beziehung zur Fremdzuschreibung zu bringen. Im Allgemeinen passen diese beiden Sichtweisen nicht zueinander.

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                                               Ein Versuch

 

Ein Kontinuum ist in diesen Überlegungen kein technisches Problem, das auftritt, wenn man die Intensitäten von Gewalt/Macht graphisch veranschaulicht. Es handelt sich folglich nicht um eine alternative Systematik. Es ist in erster Linie eine andere Betrachtung psychosozialen Befindens als verwobenes Resultat eines lebendigen Lebens, zu dem alle erinnerten oder verdrängten negativen Erlebnisse gehören.

Als zentrale Wirkung eines extremen Gewalttraumas ist die nachhaltige Demütigung anzusehen, die wie ein Maulwurf oftmals die zukünftigen Handlungsoptionen aushöhlt. Wenn man von extremer Demütigung spricht, dann impliziert dies weniger extreme Varianten, die über längere Dauer zu kumulativen Wirkungen führen können und das Muster bilden, in das eine extreme Demütigung  eingepasst wird. Integrieren, d.h. Einpassen und Abgleichen, bedeutet aber nicht zwangsläufig Verstehen.

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         Vom Spiel der Argumente im interessegeleiteten Wissenschaftsbetrieb

 

Das Leiden an politischer und rassistischer Verfolgung und Lebensbedrohung ist in den Fokus der epigenetischen Forschung geraten. Mit spannungsgeladener Erwartung erhofft sich ein kleiner Teil der psychotherapeutisch Tätigen Belege für die These, dass extreme Traumata, wenn sie sich über lange Perioden hinziehen, in einem Prozess epigenetischer Methylierung zu einer Vererbung auf die folgende Generation führen (können), indem spezifische Genexpressionen in ihrer phänomenologischen Funktion gebremst, stimuliert oder ausgeschaltet werden. Extreme Traumata würden dadurch ein lebenslanges Brandzeichen erreichen, das durch Genetik vererbt werden könne. Die Linderungsstrategien durch Psychotherapie würden begrenzt ausfallen, weil die zentrale Phänomenologie des Leidens determiniert sei und das geheime Leben des Traumas verborgen bliebe.

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                                 Endgültige Erkenntnis muss warten lernen

 

Kürzlich wollte ich von einem Kommunikationswissenschaftler wissen, welches seine Position zur Frage sei, ob biologische oder kommunikative Gründe im Vordergrund stünden, wenn es um die Einflüsse traumatischer Erlebnisse von einer Generation auf die folgende ginge. Er überlegte kurz, dann entwand sich ihm ein Seufzer: Zwei sehr unterschiedliche wissenschaftliche Felder mit unterschiedlicher Methodik durchbohren den Berg der Unkenntnis wie Tunnelbauer aus entgegengesetzten Richtungen, treffen sich jedoch nicht, meinte er pathetisch. Die Felder sind keine Konkurrenten, können es gar nicht sein; die Konkurrenz spielt sich innerhalb der Felder ab. Kritik kann nur aus demselben Feld und mit denselben Methoden geäußert werden. Der Bäcker kann den Schuster nicht kritisieren, weil er Lederwaren statt Teigprodukte herstellt, was Chaplin in „Goldrausch“ widerlegt.

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                                      Kurze Zusammenfassung

 

Posttraumatische Belastungsstörungen zeigen kein einheitliches Symptomenbild. Sie tragen eine geschichtliche Dimension der unterschiedlichen Einflussnahme in sich, wenn man die zurückliegenden 150 Jahre betrachtet. Viele Interessenten haben an der heutigen Bedeutung geschraubt, deren Ziel einer Sensibilisierung für Gewaltfolgen als missglückt bezeichnet werden muss. Die Diagnose wurde erst 1980 öffentlich, hatte aber zuvor schon so manchen Experten zu Erklärungen bewegt. Hier werden einige eigennützige und uneigennützige Geburtshelfer angeführt, bis es zur Geburt der Diagnose PTBS kam. Das, was wir heute darunter zu verstehen glauben, ist in den vergangenen Jahren mit einer verwirrenden Vielfalt von Beschreibungs- und Erklärungsversuchen versehen worden. Die psychischen Befinden von gekränkten und verletzten Menschen sind durch ihre Mehrdeutigkeit zu einem begehrten Feld der interpretierenden Wühlarbeit geworden. Aus den unterschiedlichen Deutungen resultieren zahlreiche therapeutische Schulen und im Bereich von Verwaltungen lassen sich bürokratischen Verkürzungen und Homogenisierungen psychischer Prozesse ausmachen, der letzten und ewigen terra incognita, in der Goldgräberstimmung herrscht. Diese wird durch keine künstliche Intelligenz erobert werden können. Unbezweifelt ist heute die Feststellung, dass Erlebnisse von Realität zu traumatischen Symptombildungen führen können.

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Rasche Gedanken 

 

Wie viele Empfindungen lassen sich nach traumatischen Erlebnissen durch Sprache bezeichnen und differenziert ausdrücken? Wenn man nur noch vegetativ existiert? Wenn es sich um traumatische Erlebnisse und ihre Leiden bewirkenden Folgen handelt, scheint es nicht so viel zu sein. Ein extrem traumatisierter Mensch ringt um Worte und findet nicht zur Präzision dessen, was er fühlt und was in ihm vorgeht. Hat es da das Sandspiel oder szenische Spiel nicht viel leichter?

Ein extrem traumatisches Ereignis und seine psychischen Spätfolgen können nur aus dem Arsenal der vorgefundenen Sprache charakterisiert werden. Die vorgefundene Sprache erzwingt, Beziehungen zwischen Kausalität und begrifflichen Definitionen von Wortbedeutungen zu übernehmen. Wenn ich ein erstmalig auftretendes traumatisches Erlebnis beschreiben will, muss ich auf die sprachlichen Bedeutungen zurückgreifen, die mir andere Menschen gebieterisch und bestimmend zur Verfügung gestellt haben. Im Moment des traumatischen Schocks ist meine Sprache nur Gestammel. Mit größerem Abstand zum Ereignis ist meine Beschreibung meines Leidens an quälenden Symptomen auf die sprachlichen Begriffe angewiesen, die meine Umwelt durch Definition, Gebrauch, Konvention und Erwerb mir bietet. Für etliche Emotionen gibt es nur ein Wort und keine differenzierende Zwischentöne. (Daher werden gern Steigerungen hinzugefügt: voll, krass, super, mega). Das Gleiche gilt für alle überwältigenden Wirkungen aus der Umwelt, die mit Gegensatzpaaren nicht genau zu erfassen sind (mächtig- ohnmächtig, autonom- abhängig, usw.). Das heißt, dass durch das erworbene Sprachgitter sehr viele Impressionen und Gefühle ins Unsagbare fallen. Wo aber bleibt das Unsagbare? Nimmt es die Gestalt des Unbewussten an? Wird das Unsagbare zum Motiv für Auflehnung und Verzweiflung, weil ein diffuser Mangel an Präzision uns zum Schweigen bringt oder eine erneut aufsteigende Furcht die Zunge lähmt?

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Ein neues Wort ist in die Alltagssprache eingedrungen: Vulnerabilität, vulnerabel, welches die physische und psychosoziale Verletzlichkeit eines Menschen bezeichnet. In einem Interview im DLF äußerte Prof. Strohschneider den Verdacht, wir Moderne könnten uns gesellschaftlich nur noch im Modus der jeweiligen Verletzlichkeit wahrnehmen, was dann, füge ich hinzu, zur Etikettierung: Jammergesellschaft berechtigen kann. Prof. Strohschneider meinte aber wohl eine kulturell bedingte Hypersensibilität des Zeitgeistes, der überall Verletzungsfallen ausgelegt sieht, aber keine Konsequenzen aus seiner Zeitdiagnose ziehen will.

Nun bezeichnet Vulnerabilität keine Verletzung, sondern nur die Möglichkeit einer Verletzung, mithin ein Risiko. Die Möglichkeit enthält folglich eine Angst verursachende Unsicherheit, die aber durch den inflationären Gebrauch rasch zum Faktum wird. Wenn wir uns im Modus der Vulnerabilität wahrnehmen, könnte ein gesellschaftlicher Vorteil resultieren: Wir gehen behutsamer miteinander um. Allerdings erschweren die Anonymität und die große Zahl der vulnerablen Gruppen den sensiblen Umgang. Jahrelang wurden das Individuum und die Individualisierung favorisiert, Konkurrenz mit Ellbogen gefeiert. Nun soll der Gedanke einer Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ausgepackt werden (außerhalb von Fußballländerspielen). Diese  Widersprüche überfordern manchen Zeitgenossen.

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Eine alternative Betrachtungsweise des Themas Trauma und Folgestörungen ist die eines Metabolismus, d.h. einer Wechselwirkung von Innen und Außen, einer Verkörperung, Verinnerlichung und Verstofflichung von realer Umwelt, die nicht in gleicher Weise exkorporiert wird, sondern nur in verwandelter Form in Erscheinung tritt. Atmung ist das plastische Beispiel, bei der Sauerstoff aufgenommen und Kohlendioxid ausgeschieden wird. Imitation und Erziehung als Dressur können als relative Ausnahmen betrachtet werden, weil in diesen Fällen der Output wie der Input ausfällt oder im Ergebnis bewusst und konstant gleich ausfällt.

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